„Sie sind ein bisschen spät dran, heut.“ – Mit diesen Worten wird
Reinhold Messner weit oben auf dem Matterhorn empfangen – bei
Sonnenaufgang über die Ladentheke eines Kiosks hinweg, den Kurt Felix
mitsamt seiner versteckten Kamera für „Verstehen Sie Spaß“ dort hat
abseilen lassen.
Dieser Meilenstein deutscher Fernsehunterhaltung beeindruckt nicht
nur Logistiker, auch dem Vertrieb werden neue Wege aufgezeigt. Und so
abwegig ist die Szene nicht, folgt man trendigen Experten, die –
Vertrieb in eigener Sache – den „Multi-Channel“ schon verlassen haben,
um die nächste Ära, genannt „Everywhere Commerce“, auszurufen.
Während der Begriff „Multi-Channel“ seit Jahren dafür wirbt, neben
der herkömmlichen Ladentheke zusätzliche Vertriebskanäle über
Online-Shops und Call-Center zu erschließen, soll „Everywhere
Commerce“ getrennte Wege zusammenführen. Übergreifend sollen
verschiedene Kanäle, Endgeräte und Applikationen den potentiellen
Kunden mit vereinter Kraft an jedem Ort, in jeder erdenklichen
Situation zum Kauf geleiten können. Die Schlüsselrolle übernehmen
mobile Smartphones, die ihre Besitzer mithilfe so genannter
„Location-Dienste“ in das nächstgelegene Lokal oder Ladengeschäft
lotsen, sobald ein Online-Angebot beim Nutzer Begehrlichkeiten weckt.
So lassen sich spontane Kaufimpulse sofort bedienen, bevor neue
Ereignisse ins Bewusstsein des Konsumenten treten und einen Keil
zwischen Wunsch und Erfüllung treiben können.
Andere Marketing-Strategen verneinen hingegen die Frage, ob man
allzeit und überall jeden Wunsch potentieller Kunden erfüllen können
sollte. Ihr Rezept heißt „künstliche Verknappung“. Durch limitierte
Stückzahlen, saisonale Verkaufszeiten und einen erschwerten Zugang zum
Angebot soll dessen Wertschätzung steigen. Muss der Kunde nicht nur
Zahlungsbereitschaft, sondern echten Einsatz zeigen, um Besitz zu
ergreifen, werden Produkte zu Trophäen und der Kaufrausch zum
Jagdfieber. So entfachte zum Beispiel die Modekette H&M mit einer
limitierten Versace-Kollektion großen Ansturm auf 18 ausgewählte Läden
in Deutschland. Jeder Kunde, der frühmorgens rechtzeitig in der
Schlange aufschloss, bekam nach Ladenöffnung 15 Minuten Zeit, maximal
1 Stück pro Größe auszusuchen.
„Everywhere Commerce“ oder „Künstliche Verknappung“? Nicht neu ist
die Erkenntnis, dass verschiedene Wege zum Verkaufserfolg führen
können, solange sie nicht ins Einerlei der Langeweile einmünden.
Marketing sucht Aufmerksamkeit gegen den Strom. Der „One best Way“
erweist sich da als Sackgasse. Auch in der Auswahl und Pflege
wirksamer Distributionskanäle können Unternehmen Profil zeigen, indem
sie ausgetretene Wege verlassen und das Besondere, vielleicht auch
Extreme suchen, auf einem virtuellen Matterhorn oder anderswo.
Prof. Dr. Holger Petersen (Autor des Studienbriefes 1400 Nachhaltigkeitsmangement)
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